9/12/2006

Die Welt:Zerstörungskraft von 400 Atombomben

Geschichte

Zerstörungskraft von 400 Atombomben
Wie das Beben von Tangshan in China vertuscht wurde/Von Johnny Erling

Xiaobai kam nach drei Wochen aus der 160 Kilometer entfernten Erdbebenstadt Tangshan an die Universität Peking zurück. Der einst fröhliche Philosophiestudent, der als Zimmernachbar im Studentenwohnheim mit deutschen Stipendiaten zusammenlebte, wirkte bedrückt. Xiaobai durfte uns im September 1976 nicht berichten, was er in den nach Verwesung stinkenden und von Flugzeugen mit Hunderten Tonnen Desinfektionsmittel übersprühten Trümmerfeldern gesehen hatte.

Als Chinas Studenten zur Hilfe eintrafen, waren viele der verschütteten Toten noch nicht geborgen. Nur 15 Sekunden hatte das Beben gedauert. Es traf am 28. Juli um 3.42 Uhr früh eine Millionenstadt in ihrer Tiefschlafphase mit der Zerstörungskraft von 400 Atombomben des Hiroshima-Typs. Aber erst am 23. November 1979, drei Jahre nach dem Beben, nannte die Parteizeitung "Renmin Ribao" erstmals Todeszahlen über die schlimmste Naturkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Vom Epizentrum Tangshan bis nach Peking wurden eine Millionen Häuser zerstört. 242 400 Menschen starben, 700 000 wurden verletzt.

"Wir mußten die Toten auf den Straßen selbst zur Seite tragen, um durchzukommen" erinnern sich die ersten Journalisten der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua an apokalyptische Szenen vor Ort. Fotograf Guan Tianyi durfte aber keine Bilder davon machen. Peking verlangte nach "positiven" Aufnahmen vom Wiederaufbau. Bewaffnete Milizen verhafteten den Xinhua-Fotografen, als er die Zerstörung aufnahm, und warfen ihm vor, ein "Konterrevolutionär zu sein, der den Sozialismus verleumden will". Guan kann erst heute darüber berichten, wie Pekings ultralinke Politik die Menschen verblendete. Von Mitleid und Solidarität des Auslands wollte die Partei nichts wissen. Staatschef Hua Guofeng verkündete in Tangshan: "Die Ausländer sagen, sie wollen nach China kommen, um uns Hilfe zu leisten. Unsere großartige Volksrepublik braucht keine Einmischung. Wir vertrauen auf die eigene Kraft." Studenten hatten glitzernde Porzellananstecker mit Maos Bild in Schlammhaufen neben zerborstenen Brunnen entdeckt. Das für sie scheinbare Wunder fand eine einfache Erklärung. In der Bergbau- und Industriestadt wurde traditionell Porzellan gebrannt. Zwei Dutzend Manufakturen stellten in der Kulturrevolution millionenfach Mao-Abzeichen her. Als der Große Vorsitzende seinen Personenkult zurückfahren ließ, stoppten sie im Mai 1969 die Produktion. Sie durften aber ihre Lagervorräte weder einschmelzen noch zerstören. Sie schütteten sie in die Brunnen. Das Beben brachte die im Schlamm konservierten Plaketten wieder zum Vorschein.

Mao nützte es nichts mehr. Abergläubische Chinesen werteten das Beben als Omen. Sein Mandat des Himmels war erloschen. Tatsächlich waren die Tage des in seinem Palast Zhongnanhai todkranken Diktators gezählt. Fünf Wochen später, am 9. September, starb Mao. Er hatte das Inferno noch gespürt. Das Beben pflanzte sich über die nordchinesische Ebene fort, verwüstete Tianjin und erschütterte die Hauptstadt. Spalten klafften im Mittelteil des "Peking"-Hotels. Risse taten sich im Sockel des von den Jesuiten gebauten Astronomenhügels auf. In der Universität Peking wurden 66 Gebäude baufällig und 17 Personen verletzt. Von der latenten Erdbebengefahr will die Olympiametropole 2008 mit ihren Superbauten wie das 230 Meter hohe von Rem Kohlhaas entworfene Medienzentrum heute nichts wissen, kritisierte Chinas greiser Architekturpapst Wu Liangyong.

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Die Wahrheit zu verheimlichen hat im kommunistischen China Tradition. 30 Jahre dauerte es, bis viele Hintergründe und auch das Geheimnis gelüftet wurden, warum Peking die Bevölkerung nicht vorwarnte, sondern jahrelang behauptete, daß das Beben aus heiterem Himmel kam. In seinem neuen Buch "Tangshan Jingshilu" (Protokoll der Warnungen) schildert der Autor Zhang Qingzhou, wie verzweifelt Dutzende lokaler Seismologen und Forscher Peking zu alarmieren versuchten. 40 Erdbebenstationen um Tangshan meldeten zwei Monate vor dem Beben geotektonische Veränderungen, abnorme Wasserstands- und Temperaturmeldungen. Dreimal schafften es die vielen Warner, daß zentrale Krisensitzungen am 14., am 21. und 26. Juli in Peking einberufen wurden. Doch die in politische Machtkämpfe und ideologische Kampagnen verwickelten zuständigen Führer ließen Termine verschieben oder nahmen nicht daran teil. Sie bezweifelten, ohne sich damit ernsthaft zu befassen, zudem die Stichhaltigkeit der Warnungen. Sie scheuten sich vor der Entscheidung für Chinas Zentralregion mit Peking Erdbebenalarm zu geben. "Mit ihrer Borniertheit tragen diese Herrschaften unabwendbare Verantwortung" stellt der Pekinger Erdbebenforscher Geng Qingguo, einer der Kronzeugen des Protokolls, heute erbittert fest. Autor Zhang, der seine Interviews 2000 abschloß, fand lange keinen Verlag.

Auch Tangshans Einwohner spürten Gefahr im Verzug. Der Schriftsteller Qiangang befragte für seine Chronologie "Das große Beben" Hunderte Augenzeugen. Sie beobachteten, wie unnormal ihre Tiere reagierten. Auf den Märkten wurden so viele Fische wie nie angeboten, weil sie den Fischern von allein ins Netz sprangen. Selbst Zierfische schnellten aus den Aquarien. Am 27. Juli schwärmten Fledermäuse tagsüber durch die Stadt. Schwalben stießen ihre Brut aus den Nestern. Hunde bissen, wenn sie angekettet werden sollten. Ochsen ließen sich trotz Prügel nicht einsperren. Mehr als 100 Pferde galoppierten davon. Wiesel trugen ihre Jungen im Maul aus ihren Bauten, Mäuse verließen in Scharen Getreidesilos. Ihre Jungen folgten, am Schwanz des Vorläufers verbissen. Viele Bürger bauten sich Notunterkünfte, wußten aber keinen Zeitpunkt. Lokale Seismologen konnten ihnen ohne Erlaubnis Pekings nicht ihre Warnungen mitteilen. Nur der Parteisekretär Ran Guangqi vom 115 Kilometer entfernten Qinglong scherte aus. Er alarmierte eine halbe Millionen Bewohner seines Kreises über die für Ende Juli erwartete Gefahr. Keiner starb dort. Darüber durfte jahrelang nicht berichtet werden.

Peking setzte 300 000 Hilfskräfte, darunter 100 000 Soldaten zum Wiederaufbau in Tangshan ein, um die Stadt vom Reißbrett aus neu zu errichten. Die Ideologen gaben weiter den Ton an. Der 75jährige Biologe Lan Tianzhu kann heute berichten, wie die für Winterquartiere vom ganzen Land angelieferten Baumaterialien nach Maos Tod erst einmal zur Anlage von Gedenkhallen zweckentfremdet wurden.

Solche Erinnerungen mag Peking nicht. Mitte Juli forderte die Presse- und Verlagsbehörde, das oberste Zensuramt des Landes, die Medien auf, im Gedenkjahr 2006 nicht von der "korrekten Linie abzuweichen". Sie sollten "kühlen Kopf bewahren und ein geschärftes Bewußtsein zeigen". Pekings Führung weiß, welche Hypothek in den Erinnerungen für ihre Legitimation lastet vom unrühmlichen Jubiläum der 1966 begonnenen Kulturrevolution, dem Tod Maos und der Verhaftung der Viererbande vor 30 Jahren oder dem Erdbeben von Tangshan. Bis heute hat Chinas Regierung kein öffentliches Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung über ihre Schuld oder Mitverantwortung an den Katastrophen gefunden. Da bleibt den Menschen Tangshans nichts übrig, als jährlich am 28. Juli mit Totengeld ihrer Opfer zu gedenken.

Sieben Ruinenstücke erinnern noch an das Beben. Sie wurden jetzt als nationale Kulturstätten unter staatlichen Denkmalschutz gestellt. "Jeder Ziegel, jeder Stein, jeder Grashalm und jeder Baum hier steht für eine Wahrheit: Die Partei ist großartig, das sozialistische System überlegen, die Armee zuverlässig und das Volk unbesiegbar" verkündet der Vizepropagandachef Xu Xiangbin. So soll es die Schuljugend künftig lernen.

Artikel erschienen am 28.07.2006

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